Nomaden

Als ich im Herbst den Artikel "Diese asozialen Sachsen" schrieb wusste ich noch nicht, dass wir schon bald selbst wieder in diesem Bundesland leben würden.

Im November eröffnete unser Arbeitgeber meinem Mann und mir, dass eine Versetzung ansteht. Ob wir bereit wären, ab Sommer 2020 in Chemnitz zu arbeiten?

Früher hatte ich eine Traumvorstellung von meinem Leben: Ich wollte in einem Haus mit großem Garten wohnen, vier Kinder haben und für diese zuhause bleiben. Mein Mann sollte einen guten Job haben, und ich wollte in meiner Freizeit Bücher schreiben (auf meiner von Blumen umrankten Gartenbank).
Ich erinnere mich aber auch, dass ich einmal als Jugendliche am Küchenfenster stand, den Blick über unser Grundstück schweifen ließ und zu meiner Mutter sagte: "Ich glaube, ich werde später weit weg von hier wohnen."

Ich zog mit achtzehn von Zuhause aus und machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. In Chemnitz. Die drei schwierigsten Jahre meines Lebens, und ich hasste diese Stadt.
In dieser Zeit passierten aber auch zwei Dinge, die mein Leben und meine Pläne in eine neue Richtung lenkten.
Ich lernte meinen Mann kennen, und Gott beantwortete ein Gebet. Die Arbeit im Krankenhaus machte ich zwar gern. Die Möglichkeiten der Medizin, das Wunder des menschlichen Körpers und die Freude, kranke Menschen auf dem Weg der Heilung zu begleiten sind Erfahrungen, die ich nicht missen möchte. Aber ich hatte das Gefühl, dass mich dieser Beruf nicht wirklich mein Leben lang ausfüllen würde. Also bat ich Gott, mir zu zeigen, welchen Weg ich nach dem Examen gehen sollte. Gott hatte eine Überraschung parat: "Anni, du wirst Heilsarmeeoffizierin werden."

Falls du keine Ahnung hast was das bedeutet: das ging mir ähnlich.
In der folgenden Zeit lernte ich die Arbeit der Heilsarmee kennen und schätzen. Und Schritt für Schritt kam der Gedanke in die Wirklichkeit. 2006 begannen wir Ausbildung und Studium in der Heilsarmee, und seit 2008 sind mein Mann und ich Heilsarmeeoffiziere. Nicht nur beruflich, sondern quasi mit Leib und Seele. Es ist eine Berufung, die nicht nur acht Arbeitsstunden am Tag umfasst, sondern einen ganzen Lebensstil.
Es bedeutet, viele Städte kennen zu lernen und jeder Menge wunderbarer Menschen zu begegnen.
Und es bedeutet von Anfang an die Entscheidung, als Nomade zu leben.
Heilsarmeeoffiziere sind im Grunde Missionare, die immer nur für eine gewisse Zeit an einem Ort bleiben. Man weiß nie, wie lange das sein wird, denn es hängt von vielen Faktoren ab. Wir entscheiden auch nicht selbst, wann wir weiterziehen, sondern werden "geschickt".

Nun ist es aber so, dass die Heilsarmee zumindest in Deutschland fast ausschließlich in Städten zu finden ist. 
Das hat mit ihrem Auftrag zu tun. Wir dienen Menschen "am Rande der Gesellschaft". Deshalb finden sich die Gemeinden und Sozialeinrichtungen in Ballungsgebieten, oft in Gegenden, die nicht gerade zu den beliebtesten Wohnquartieren zählen.
Für ein Dorfkind wie mich ist das eine echte Herausforderung. Städte sind nicht mein "natürlicher Lebensraum". Spätestens, wenn es auf den Sommer zugeht, bekomme ich in jedem Jahr einen "Stadtkoller". Mir fehlt die Weite.
In Berlin hatten wir das Glück, trotzdem in einem schönen "Kiez" zu wohnen. Nun ziehen wir weiter, und es ist nicht möglich, aus der Ferne zu wissen, wie es sein wird, an dem neuen Ort zu leben.

Das ist das Schwierige an einem Nomadenleben. Man weiß nicht, ob der nächste Platz einer sein wird, an dem die Familie sich zuhause fühlen kann. Eigentlich wollte ich schreiben "wo die Familie Wurzeln schlagen kann". Aber das ist ja gerade das, was wir nicht tun: zumindest nicht im herkömmlichen Sinne.
Es wäre keine gute Idee, an jedem Ort Wurzeln in die dortige Erde zu treiben. Stattdessen sind wir wie eine Pflanze, die in einem großen Blumentopf wächst. Ab und zu wird der Topf an einen anderen Ort gebracht.

Wenn ich Menschen erzähle, wie wir leben, reagieren sie oft erstaunt. Ist das nicht sehr schwer für die Kinder? Ja... Es ist ganz anders als das, was ich als Kind erlebt habe. Es hat nichts von dem verträumten Ideal einer Kindheit in unveränderlicher Umgebung, mit frischer Luft und Freundschaften, die bis zum Abitur keiner Schwankung unterliegen. Es bedeutet immer wieder Aufbruch und Neuanfang. Leben in Städten, in die man freiwillig nie gezogen wäre. Es bedeutet, anpassungsfähig sein zu müssen. Mutig. Weltoffen. Neugierig und flexibel.

Bis jetzt sagen unsere Kinder zu diesem Leben: es ist gut. Es ist unser Leben. Es ist manchmal schwer - aber welches Leben ist das nicht? Es öffnet aber auch den Horizont. Es bedeutet, immer wieder Neues zu erleben. Neue Freunde zu finden und "alte" in vielen Städten zu haben.

Als Nomadenmutter lasse ich mich von Aussagen wie "Das kann doch nicht gut sein für die Kinder!" verletzen. Schließlich möchte ich - wie jede Mutter - nur "das Beste" für unsere Familie. Und, weil "das Beste" eben nicht für jeden das Gleiche ist lerne ich aus diesen Gefühlen. Ich möchte die Lebensmodelle Anderer respektieren und wertschätzen. Wir können uns gegenseitig ermutigen und unterstützen, voneinander lernen und miteinander staunen.

Das Leben ist so vielfältig. Das Wichtigste ist, so glaube ich, dass wir es mit vollem Herzen leben.
"Oh Gott, ich bin so froh, dass ich nicht so leben muss wie du", gestand mir eine Bekannte neulich.
Und ich denke: "Oh Gott, ich danke dir, dass du mir damals eine Berufung geschenkt hast. Und, dass du auch noch eine wahnsinnig tolle Familie mit ins Paket packst."

An seiner Hand machen wir einen Schritt nach dem anderen in die nächste Etappe unseres Nomandenlebens. Und glauben fest, dass er uns sicher leitet.

Unterwegs.










Kommentare

  1. Wo Gott uns hinstellt werden wir es schaffen. Das ist auch für euch ein fester Bestandteil des Glaubens. Für die neue Aufgabe alle seinen Segen.

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