Wert durch Leistung
Mai 2020, Berlin.
Heute auf meinem Stundenplan als Heimschullehrerin:1.) Unterstütze einen Zweitklässler dabei, ein Märchen zu verstehen, die Moral zu checken und einen Text zu verfassen , der beweist, dass er die Moral auf seinen Alltag übertragen kann.
2.) Hilf dem Viertklässler, ein Laufdiktat zu schreiben und dazu passende grammatische Finessen herauszuarbeiten. Englische Grammatik folgt dann nach der Pause.
3.) Sorge dafür, dass die Sechstklässlerin sich auf ihre Matheaufgaben konzentrieren kann, während der Zweitklässler über die noch nicht verstandene Märchenmoral philosophiert und der Viertklässler im Dreisekundentakt zwischen Tisch eins und Tisch zwei pendelt, um das Laufdiktat zu schreiben.
4.) Erkläre dem Neuntklässler, was es bedeutet, die "Elemente der NS-Ideologie" aus einem Quelltext zu extrahieren.
5.) Korrigiere den Text des Zweitklässlers und überzeuge ihn davon, diesen noch einmal ordentlich und korrekt abzuschreiben. Wozu er selbstverständlich keine Lust hat.
6.) Versuche das Ganze in einer ruhigen, entspannten Atmosphäre stattfinden lassen, damit idealerweise das Kindergartenkind noch eine Runde Vormittagsschlaf macht.
7.) Greife freundlich regulierend ein, wenn der Zeit- und Viertklässler sich darüber streiten, ob es schwer oder einfach ist, in Schreibschrift zu schreiben.
8.) Schaue nach, ob die Zehntklässlerin sich auf ihre bevorstehende Abschlussprüfung vorbereitet oder Netflix schaut (sie arbeitet).
9.) Versuche, nebenbei deine eigene Arbeit zu erledigen (das heißt, arbeite eine Predigt aus).
10.) Bereite Snacks zu, um die Kinder bei Laune zu halten.
Es läuft richtig gut - zumindest die bisherigen fünfundvierzig Minuten des "Unterrichts".
Die Kleinste ist in ihrem Zimmer und spielt vermutlich mit den Barbies (ich höre sie leise reden, will aber nicht nachschauen, denn dann wäre es vorbei mit dem selbständigen Spiel.)
Die Großen halten sich sowieso seit Wochen an ihren eigenen Zeit- und Lernplan. In der ersten "Corona-Woche" hatte ich Panikattacken, weil ich von dem Gedanken völlig überfordert war, mein ältestes Kind jetzt ohne Lehrerhilfe auf die MSA-Prüfungen vorbereiten zu müssen. Glücklicherweise spielte sich an dieser Front aber die digitale Betreuung durch die Lehrer schnell ein.
Hauptherausforderung sind die emotionalen Hürden bei den Grundschülern. Frust, wenn eine Aufgabe nicht ganz einfach zu bewältigen oder schlichtweg langweilig ist.
Angst, die Menge der Aufgaben in einer Woche nicht bewältigen zu können.
Mir stellt sich die Frage: wieviel helfen? Wieviel Druck machen? Fehler stehenlassen, oder dafür sorgen, dass die Lösungen stimmen?
Wir arbeiten täglich von 8.30 Uhr bis 11.45 Uhr, mit einer halbstündigen Hofpause. Am Nachmittag sollen die Kinder noch einmal je dreißig Minuten mit Lern-Apps (Anton bzw. Duolingo) verbringen. Manchmal machen wir auch etwas anderes als die Schulaufgaben: nähen, bauen, Sport oder etwas Kreatives mit Musik und Stiften.
Ich mag den Heimunterricht, wirklich.
Dass mein Puls und Blutdruck zeitweise in die Höhe schießen liegt nur selten an der Laune der Kinder. Meistens liegt es daran, dass ich nicht mit vollem Herzen dabei sein kann.
Obwohl meine Chefin mir zugesichert hat, dass es vollkommen in Ordnung sei, nur für die Kinder da zu sein während dieser Zeit: das bringe ich nicht übers Herz. Es gibt immer noch Aufgaben aus meinem eigentlichen Arbeitsbereich, die ich weiterhin wahrnehmen möchte. Menschen aus unserer Gemeinde will ich gerade in dieser Zeit nicht aus dem Blick verlieren. Die Gottesdienste finden digital statt und wollen genauso gründlich vorbereitet werden wie sonst auch. Und eine Predigt soll eine gut durchdachte Predigt sein. Ich könnte das alles meinem Mann überlassen, dann müsste ich mich innerlich nicht zerteilen.
Aber es fühlt sich falsch an, nur für die Kinder da zu sein.
Dass sich das falsch anfühlt, fühlt sich sogar noch falscher an.
Das ist mein Dilemma: eine gute Mutter wäre zufrieden und glücklich, endlich einmal nur Mutter sein zu können und ihre hundertprozentige Aufmerksamkeit in Strömen über die Kinder zu ergießen.
Eine gute Pastorin möchte sich so intensiv wie möglich um ihre Schäfchen kümmern.
Wem von beiden werde ich denn nun gerecht? Keinem.
Genau das stresst ungemein, denn es kann nur darin enden, dass ich mich auf ganzer Linie als Versager fühle.
Damit komme ich endlich zu dem Punkt, um den es mir geht.
Die letzten Wochen haben viele Eltern auf eine Zerreißprobe gestellt. Nicht, weil sie ihre Kinder zu anstrengend finden, oder keine Lust haben, Zeit mit ihnen zu verbringen. Sondern, weil sie aus einer Welt, in der nur die Leistungen im Arbeitsleben honoriert werden, in eine Welt geworfen werden, in der sie Arbeit und Kinder 24 Stunden am Tag unter einen Hut bringen müssen.
Und in der trotzdem nur die Arbeitsleistung zählt. Finanziell wie psychisch.
Nein, ich möchte kein zusätzliches Geld dafür haben, dass ich meine Kinder zuhause betreue und unterrichte. Das brauche ich nicht, weil mein Arbeitgeber mir, Gott sei Dank, die Möglichkeit gibt, in dieser Ausnahmesituation für die Kinder da zu sein und nur so viel Arbeitsleistung zu erbringen, wie es mir nebenher möglich ist.
Dieses Glück haben andere Eltern nicht. Wenn der Chef von Mitarbeitern, die Homeoffice und Homeschooling machen müssen, die gleiche Arbeitsleistung verlangt wie von Mitarbeitern, die Homeoffice ohne Kinder machen - dann wird es wirklich schwierig. Denn es wird nur die sichtbare, für den Arbeitsplatz wirksame Leistung angesehen. Finanziell wie psychisch.
Mehr noch sogar. In zahlreichen Beiträgen im Internet (wieso lese ich das auch?) kommentieren Menschen: "Selbst schuld, warum habt ihr euch Kinder angeschafft?" "Überraschung, es ist anstrengend, wenn man sich um Kinder kümmern muss." "Plötzlich sind Eltern überfordert, weil sie ihre Kinder selbst erziehen müssen."
Das macht mich traurig bis wütend.
Denn es geht - zumindest bei den meisten Eltern - nicht darum, dass wir mit der Erziehung und Beschulung unserer Kinder überfordert sind.
Es geht darum, dass Kinder als Luxusgut betrachtet werden, das man sich angeschafft hat und nun damit klarkommen muss.
Kinder zu erziehen zählt nicht als Arbeit (außer, wenn es ein Pädagoge tut). Es ist in unserer Gesellschaft quasi nichts wert - zumindest im Vergleich mit "richtiger Arbeit".
Wer nur Kinder bekommt und erzieht, der leistet nichts.
Kinder schafft man sich heutzutage nur an, wenn man es sich finanziell leisten kann.
Sie zu erziehen ist die Aufgabe, die sich nebenbei ergibt: so wie bei jedem anderen Hobby. Wer Modellbau betreibt, muss Geld und Zeit in Bastelei investieren.
Kinder sind genau so ein Hobby. Wer es nicht schafft, das neben einer "ordentlichen Arbeit" auszuüben, der muss damit klarkommen, verlästert zu werden.
Das ist die dunkle Seite der Selbstverwirklichungsmedaille.
Für Frauen war es früher schwer, den eigenen Begabungen und Interessen über Haushalt und Familie hinaus nachgehen zu dürfen. Jetzt dürfen wir es: und fallen auf der anderen Seite des Pferdes hinunter.
In unserer Gesellschaft ist es mittlerweile ganz normal, dass Frauen selbst Geld verdienen und den Beruf ihrer Wahl ausüben. Das finde ich schön, denn ich liebe es, meine Berufung in meinem Beruf zu leben.
Dass dafür Kinder zum Luxusgut werden und kinderlose Menschen sich darüber echauffieren, wenn Eltern an ihre Belastungsgrenzen kommen, schmerzt.
Gibt es eine Lösung für dieses Dilemma?
Vielleicht liegt sie ganz einfach in der Wertschätzung, die Familien entgegen gebracht wird. Wenn Kindererziehung zumindest ansatzweise so anerkannt würde, wie ein Zweitjob - das wäre doch ein guter Anfang. Oder ist sogar mein Beruf in Wirklichkeit der Zweitjob, den ich mir, neben der wichtigsten Aufgabe überhaupt, gönne?
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