Notfall-Vegetarier

Seit gestern isst unsere gesamte Familie vegetarisch.
Das kam so: Mein Neunjähriger stellte besorgte Fragen zu den Bränden im Regenwald. Es beschäftigt ihn sehr, dass hier unvorstellbare Waldflächen zerstört werden. Auch, dass dieser ferne Wald Auswirkungen auf den Sauerstoffgehalt in unserer Atemluft hat ist ihm schon bewusst geworden. Und diese Brände sollen zum Teil menschengemacht sein?

"Es werden schon seit vielen Jahren immer wieder Flächen brandgerodet, damit dort andere Pflanzen angebaut werden können", erklärte ich ihm. "Der Regenwald wird abgebrannt, um an seiner Stelle zum Beispiel Soja anzubauen. Dieses Futter für die Schweine, die wir dann essen, lässt sich eben gut verkaufen." Seine Augen wurden groß. "Dann müssen wir Vegetarier werden. Die ganze Familie. Ab sofort!"
"Das bedeutet aber, dass du keine Wurst mehr essen kannst", gab ich zu bedenken. Er schüttelte entschlossen den Kopf. "Das ist egal. Wir müssen das machen."
"Sollen wir es nicht erst einmal ausprobieren?", wandte Papa nun ein. "Gut. Drei Monate." Wir einigten uns auf eine überschaubare Testwoche, natürlich gern erweiterbar.
Ich freue mich, dass die Kinder mittlerweile von ganz allein auf Ideen kommen, wie sie etwas dazu beitragen können, unserer Welt Gutes zu tun. Alle Geschwister waren sofort bereit, mitzumachen. Kind Nummer 3 wurde zwar nicht gefragt, weil sie in dieser Woche auf Klassenfahrt ist, aber sie hat schon vor Kurzem einmal eine "Vegetarisch-Challenge" mit ihrer Freundin gemacht. Ob wir nun komplett Vegetarier werden (was ich leicht bezweifle) oder einfach drastisch die leckeren Alternativen zum Wurstbrot in den Alltag integrieren bleibt abzuwarten. Aber der Punkt, der mich berührt ist: Kinder entscheiden mit, denken zukunftsorientiert und sind bereit, selbst auf etwas zu verzichten.
Von diesem Enthusiasmus können wir Erwachsenen uns eine Scheibe abschneiden. Die vielen "Baustellen" dieser Welt bringen den ein oder anderen dazu zu kapitulieren. Überfordert von all den Problemen heben wir die Hände und sagen: "Nach mir die Sintflut. Ich kann sowieso nichts tun."
Ich bin überzeugt, dass das nicht sein muss. Zum Glück gibt es ganz viele Menschen, die sich nicht damit abfinden, dass uns der Umweltschutz aus den Händen gleitet. Ich beobachte, dass es jede Menge frische Ideen gibt, die Müll und Chemie reduzieren. Waschmittel, die wieder zum Großteil natürlich auskommen. Umweltfreundlichere Verpackungen, Tierwohlinitiativen (es ist immerhin ein Anfang!), Periodenunterwäsche, plastikfreies Shampoo und regionale Lebensmittel im Gemüseregal. Ich kann so viel tun, selbst wenn ich nicht die Energie aufbringe, mich im großen Stil zu engagieren. Im vergangenen Jahr habe ich mich viel mit dem Thema beschäftigt. Angefangen mit dem Plastikfasten im Frühjahr 2018 fasziniert mich bis heute die Vielfalt der Alternativen zum "normalen" Einkaufsverhalten.
Für mich als Großfamilienmutter in einem eher Geringverdienerhaushalt haben sich diese Punkte bewährt:
1. Obst und Gemüse möglichst lose kaufen und auf dessen Herkunft achten. Meistens ist allerdings nur das eine oder das andere möglich. Bei Äpfeln, Gurken, Möhren und Co. ist es relativ einfach, regional zu bleiben. Das bekommt man auch fast überall unverpackt. Schwieriger sind z.B. Beeren: wenn man saisonal kauft gibt es die auch aus Deutschland, aber leider meist in Plastik. Auch beim Preis gibt es da natürlich schmerzhafte Unterschiede. Tomaten aus der Region sind in meinem Stammladen fast doppelt so teuer wie die aus Marokko. Um die Brotdosen der Kinder abwechslungsreich gestalten zu können kaufe ich generell auch Obst aus dem Süden. Hier versuche ich aber, zumindest nur europäische Artikel zu kaufen. Natürlich hat auch das seine Schattenseiten (Anbaubedingungen), und vielleicht ist eine Kiwi aus Neuseeland, die auf einem Schiff nach Deutschland reiste, auch mal besser als ein Pfirsisch aus einer übergroßen Plantage in Spanien. Hier muss ich immer wieder abwägen und gehe auch Kompromisse ein. Ein Punkt, bei dem ich noch schwächele, ist der Wochenmarkt. Das ist leider so gar nicht meins, aber ich schätze, hier gibt es dann doch die ein oder andere Sache regional UND unverpackt. Vielleicht sollte ich mich mal wieder überwinden, dort hin zu gehen :).
2. Waschmittel mit wenig Chemie. Ein Achtpersonenshalt erfordert gefühlt den Dauerbetrieb der Waschmaschine. Waschmittel beinhaltet allerdings auch schrecklich viele "böse" Umweltgefährder. Deshalb experimentiere ich seit Langem und nähere mich vielleicht irgendwann der für uns "perfekten" Version an. Im Sommerurlaub 2018 habe ich per Hand mit Gall- bzw. Kernseife gewaschen. Diese Methode ist aber nicht alltagsfähig. Zwei Stunden täglich für Wäsche aufzuwenden, das bleibt meiner Maschine überlassen. Solange es möglich ist spare ich aber auch zuhause natürlich Strom, indem ich statt des Wäschetrockners den guten alten Wäscheständer auf meinem Balkon benutze. Als Alternativen zum herkömmlichen Waschmittel habe ich bislang probiert: Rosskastanien (selbst gesammelt, zerhackt und im Wäschenetz der Wäsche beigegeben); Waschnüsse aus dem drogeriemarkt und Öko-Flüssigwaschmittel mit wenigen Zutaten (ebenfalls aus dem Drogeriemarkt). Sämtliche Versionen machen die Wäsche halbwegs sauber, aber leider nicht porentief rein (sprich: hartnäckigere Flecken bleiben bestehen). Ich wäge also je nach Art der Wäsche ab, ob ich naturbelassen oder mit der chemischen Keule arbeite.
3.) Essen aller Art: Hier versuche ich, Plastik zu meiden. Großpackungen zu kaufen, Glas statt Plastik, Zutaten statt Fertigprodukte, Fairtrade statt billig. Hier bin ich nicht im grünen Bereich, eher im dunkelgelben. Es ist immer ein Abwägen von Möglichkeiten. Habe ich Zeit, selbst zu backen (Brot kaufe ich immer fertig)? Finde ich eine Schokoversion, die halbwegs fair daher kommt (wenigstens mit UTZ-Siegel) oder kaufe ich eben weniger, dafür aber fair? Schlage ich meinen Kids den Knickjoghurt aus und bleibe beim Glas, möglichst Naturjoghurt mit selbst hinzugefügten Früchten, oder drücke ich ein Auge zu?
Die Liste wäre noch lange erweiterbar. Mir persönlich ist wichtig geworden, dass ich in meinen kleinen Alltagshandlungen so viel Veranwortung für unseren schönen Planeten übernehme, wie es mir möglich ist. Dabei will ich aber nicht aus dem Blick verlieren, dass wir - dosiert - auch Dinge genießen, die augenscheinlich nicht so umweltfreundlich sind. Eine Autofahrt zum Beispiel, oder gar eine Flugreise. Ich will nicht überpingelig leben, sondern ein Gefühl für das entwickeln, was wir als Familie ganz einfach tun können, weil es uns einfach am Herzen liegt.
So wie mein kleiner Notfall-Vegetarier, der am Samstag bestimmt seinen traditionellen Toast Hawaii gewöhnungsbedürftig finden wird, wenn er plötzlich vegetarisch ist. Rezeptideen sind herzlich willkommen!


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