Hirtennacht - Eine Weihnachtsgeschichte

Es war eine dieser Nächte.
Der Wind pfiff kalt über die Weide, auf der die Schafherde lag.
Das Feuerholz war feucht, und Dan musste ständig in der Glut herum stochern, damit das Feuer nicht nur qualmte, sondern auch wärmte.
Unruhig war die Herde. Obwohl es seit Tagen keinen Zwischenfall mehr gegeben hatte, schien etwas Ungemütliches in der Luft zu liegen.
Vielleicht schlich einRaubtier durch die Dunkelheit, die heute noch undurchdringbarer schien als sonst.
"Gib mir mal das Wasser", brummte Asa missmutig.
Er war kein Mann der großen Worte. Manchmal sprach er nächtelang überhaupt nicht, sondern schaute nur gedankenverloren in die Finsternis.
Dan dagegen war ganz anders. Er war jung und voller Tatendrang.
Nächte wie diese machten ihn kribbelig. Er langweilte sich. Obwohl die Schafe ihm am Herzen lagen, sehnte er beinahe ein wildes Tier herbei, mit dem er sich anlegen konnte. Alles war besser als tatenlos herum zu sitzen.


Da! War das nicht ein Schatten, drüben bei den Bäumen?
Dan sprang auf und starrte ins Dunkel. Seine Augen brannten, aber er konnte nichts entdecken.
Die Schafe waren unruhig, wie zuvor, aber nicht ängstlich. Der zottige Hirtenhund lag völlig ungerührt auf dem spärlichen Gras und zuckte nicht einmal mit der Schwanzspitze.
Enttäuscht ließ Dan sich wieder neben dem Feuer nieder.

"Manchmal habe ich keine Lust mehr, ein Hirte zu sein", maulte er.
Asa reagierte nicht. Seufzend fing Dan wieder an, seinen Stock in die Glut zu stoßen.
"Hirte zu sein ist einfach so... bedeutungslos."

Asa schob den Hut nach vorn und kratzte sich im Nacken.
"Tag und Nacht Schafe bewachen. Gibt es überhaupt eine langweiligere Aufgabe?"
Asa antwortete noch immer nicht auf Dans Klagen.
Frustriert begann der junge Mann, kleine Steine über den Boden zu schnippen.

"Ich will nicht mein Leben lang ein stumpfsinniger Hirte bleiben", fuhr er schließlich mit seinem Selbstgespräch fort.
"Ich will etwas erleben! Die Welt verändern! Hat es jemals ein Hirte zu irgend etwas gebracht?"

Jetzt hob Asa zum ersten Mal den Kopf.
Er sah seinen jüngeren Kollegen lange an, bevor er sagte: "Weißt du denn nicht, dass der große König David einst ein Hirtenjunge war, wie du?"

Dan riss die Augen auf.
"König David! Er war... du hast Recht! Ja, König David, das war ein Held. Der hatte etwas zu sagen.
Mensch, Asa.
So ein Kerl wie David steckt doch auch in mir, oder? Ich kann auch mit der Steinschleuder umgehen. Ja, wenn so ein Philisterkämpfer wie dieser Goliath mal heute käme!
Ich würde es ihm genauso zeigen, wie David das gemacht hat. David, der Hirtenjunge. WIe gut, dass du mich daran erinnert hast, Asa!"

Der alte Hirte schüttelte bedächtig den Kopf.

"Nein, nein, mein Junge", erwiderte er.
"David hat Goliath nicht besiegt, weil er so gut mit der Schleuder umgehen konnte.
Er hat ihn besiegt, weil er so fest mit Gott gerechnet hat.
Und Gott wiederum machte David zum König, weil David sein Herz auf Gott gesetzt hat."

Es wurde still auf der Weide.
Dan grübelte über die Worte des Alten nach, während Asa, wie zuvor, stumm in die Nacht sah.

Ein Windstoß fuhr den Männern unter die Mäntel.

Am Himmel teilten sich die Wolken, und ein einsamer Stern lugte hervor.
Er stand über dem nahegelegenen Städtchen Bethlehem.

"Glaubst du, dass Gott sich noch für uns interessiert, Asa?" fragte Dan schließlich. In seiner Stimme schwang Zweifel. Der alte Mann lächelte.
"Ich bin sicher, er hat uns nicht vergessen."

Gerade, als die schweigende Nacht Hirten und die Herde wieder in ihre dunkle Umarmung ziehen wollte, fauchte das Feuer auf. Funken stoben, und die Männer zuckten erschrocken zurück.

Vor dem Feuer stand ein Mann.
Ein strahlender Mann, dessen Gesicht leuchtete, wie die Sonne. Oder war es sein Gewand, das strahlte?

Der Mann begann zu sprechen.
"Habt keine Angst", sagte er.
"Ich bringe euch eine gute Botschaft für alle Menschen! Der Retter - ja, Jesus Christus, der Herr - ist heute Nacht in Bethlehem, der Stadt Davids, geboren worden! Und daran könnt ihr ihn erkennen: Ihr werdet ein Kind finden, das in Windeln gewickelt in einer Futterkrippe liegt."*

Auf einmal waren da unzählige Engel um den Mann herum zu sehen.
Die Nacht war verschwunden. Die ganze Weide lag in hellem Licht; ein Glänzen und Funkeln, ein strahlendes Leuchten erfüllte die Luft.

"Halleluja!", sangen die Engel.
"Ehre sei Gott im höchsten Himmel, und Frieden auf Erden für alle Menschen, an denen Gott Gefallen hat."**

Dan stand und starrte. Dann kam auf einmal Bewegung in seine Füße.
"Bethlehem", rief er, als der Gesang geendet hatte.
"Komm, komm, Asa, lass uns gehen! Lass uns laufen und dieses Kind finden!"
Und sie liefen. Der alte Asa sprang so flink wie der junge Dan, beflügelt von unerhörtem Glück.

Denn, so dunkel die Nacht auch gewesen war: Gott hatte seine Menschen tatsächlich nicht vergessen.

*Lukas 2,10-12
**Lukas 2, 14

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