Türchen Nummer 9

Lise sitzt am Tisch und wartet.
Sie wartet auf ihr Leben. Irgendwie ist es an ihr vorbei gegangen.
Am Anfang war es leicht: sie machte einfach, was die Erwachsenen ihr sagten. Damit war sie den ganzen Tag beschäftigt, und eigentlich lief es ganz gut.
Aber jetzt ist alles anders. Sie wohnt allein in einer Wohnung - endlich frei! hatte sie gedacht als sie zuhause auszog - und muss entscheiden, was sie mit ihrem Leben machen will.
Es ist nicht so, dass sie nichts zu tun hat. Sie hat eine Ausbildung gemacht, arbeitet acht Stunden am Tag in ihrer Firma. Sie hat Freunde, mit denen sie ausgeht. Da ist sogar Sven.
Sven hat ihr einen Antrag gemacht.
Und sie hat ja gesagt.
Aber jetzt, plötzlich, heute Morgen, ist es über sie gekommen.
Das große Gefühl von Leere.
Und nun sitzt sie hier, starrt auf die Weihnachtsbeleuchtung am Fensterrahmen und wartet.
Sie wartet auf die Zufriedenheit, die sich einstellen sollte, wenn alles so perfekt läuft.
Sie wartet auf die Schmetterlinge, auf die wundervolle Aufregung, die zu der Aussicht auf die eigene Hochzeit gehört.
Sie wartet darauf, dass Karl zurück ruft.
Karl ist Lises bester Freund. Sie hat ihn im Kindergarten kennen gelernt.
Sie haben Memory gespielt und Bilder gemalt. In der Puppenecke auf dem Sofa gesessen und sich Geschichten erzählt.
Dann kam Lise in die Schule, und Karl ins Krankenhaus.
Sie sahen sich monatelang nicht. Als er nach Hause kam saß Karl im Rollstuhl.
Das wird jetzt für immer so sein, sagten ihre Eltern.
Er ist mein bester Freund, sagte Lise.
Ihre Eltern meinten, sie solle sich neue freunde suchen. Karl kann nicht mehr zu uns kommen.
Karl besucht eine andere Schule.
Lise machte, was ihre Eltern sagten: sie suchte sich neue Freunde.
Aber nachmittags schlich sie heimlich zu Karls Haus und besuchte ihn. So oft es ging schlüpfte sie durch das Loch in der Hecke und traf ihn in seinem Garten.
Dann zog Karls Familie um.
Lise und Karl waren alt genug: Sie telefonierten, sie schrieben sich Mails, sie hielten Kontakt.
Dann hatte Karl eine Freundin. Lise freute sich für ihn, aber aus irgendeinem Grund tat ihr Herz trotzdem weh.
Dann kam Sven.
Und jetzt sitzt Lise da und wartet auf den Anruf von Karl.
Bestimmt freut er sich auch für sie.
Bestimmt sagt er: "Toll, Lise! Du wirst heiraten. Das hast du dir immer gewünscht. Du kannst eine Familie gründen. So, wie wir es uns immer vorgestellt haben, als wir kleiner waren, weißt du noch?"
Lise bemerkt auf einmal Tränen, die über ihre Wangen laufen.
Klar, Karl. Ich weiß es noch. Ich wollte eine Familie gründen.
Du hast gesagt, dass du unser Haus von außen grün anstreichen willst, und dass wir vier Kinderzimmer brauchen werden. Du wolltest im Garten ein riesiges Klettergerüst bauen. Und unser Wohnzimmer sollte so groß sein, dass alle Freunde unserer Kinder gleichzeitig zu Besuch kommen können, ohne sich vorher anzumelden.
Lise wischt sich die Tränen ab und schaut wieder auf die Weihnachtsbeleuchtung.
Und zu Weihnachten wollten wir jedes Jahr einen Baum schmücken, der bis zur Zimmerdecke reicht.
Sven lacht, wenn Lise ihm von ihren Träumen erzählt.
Sie liebt ihn wirklich. Er ist freundlich, witzig, kreativ. Er sagt ihr, was gut für sie ist.
Er wischt ihre Träume weg und füllt sie mit Realität.
Lise seufzt. Sie streicht über den Ring an ihrem Finger und steht auf. Unruhig geht sie in der Wohnung auf und ab. Da fällt ihr Blick auf die Weihnachtskrippe, die sie vorgestern aufgestellt hat. Die heilige Familie, umgeben von Hirten, Engeln und Weise.
Ihr Herz schlägt auf einmal schneller. Sie hat es lange nicht mehr gemacht, nicht mehr, seit sie als kleines Kind mit Karls Oma in der Kirche war, eigentlich.
Sie faltet die Hände und betet.
Als würde Gott ihr zuhören, erzählt sie ihm von ihrem Zweifel, ihrer Angst und der  Enttäuschung. Sie schüttet ihm ihr Herz aus und ist am Ende ganz still.
Ihr Herz schlägt wieder normal, und in ihrem Inneren herrscht ein ungewohnter Friede.
"Danke", flüstert Lise und lächelt.
In diesem Moment klingelt das Telefon.

Ich steh an deiner Krippen hier, oh Jesu, du mein Leben.
Ich komme, bring und schenke dir was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Leib, nimm alles hin,
und lass dir's wohlgefallen.

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