Türchen Nummer 7

"Dürfen wir wenigstens fernsehen, Mama?"
Till schaute seine Mutter mit dem Blick an, der ihm meistens Erfolg beim Betteln verschaffte. Große Kulleraugen und eine leicht vorgeschobene Unterlippe. Diesmal hätte er sich allerdings gar keine Mühe machen müssen.
"Ja, ja, macht, was ihr wollt. Die Hauptsache ist, dass ihr ruhig seid und uns auf keinen Fall stört. Hast du das verstanden?" Till nickte eifrig. Ein bisschen besorgt war er schon, denn seine Mutter wirkte ziemlich angespannt.
"Das gilt auch für dich, Thorben." Der Angesprochene brummte ein "Schon klar", sah aber nicht von seinem Handy auf. "Dieses Gespräch entscheidet, wie es mit Uroma weiter geht. Die Leute vom Pflegedienst haben sich extra die Zeit genommen, damit wir alles klären können. Also benehmt euch und kommt nicht ins Esszimmer. Es wird lange dauern, aber ihr habt alles hier, was ihr braucht. Thorben, du trägst die Verantwortung."
"Ja... schon klar."
Till warf seinem großen Bruder einen Blick zu, denn schlang er die Arme um die Taille seiner Mutter.
"Wir werden schon lieb sein", sagte er und drückte sich an sie. Dann ließ er los und hüpfte zu Thorben auf das Sofa. Er schnappte sich die Fernbedienung und wählte ein Kinderprogramm.
Die Mutter seufzte, drehte sich um und schloss die Tür hinter sich.

Eine kleine Weile herrschte einträchtige Stimmung im Wohnzimmer. Thorben spielte sein Spiel, und Till starrte auf den Bildschirm.
Aber die Ruhe währte nicht lange.
"Ich muss mal", jammerte Till und rutschte auf seinem Platz hin und her.
"Dann geh", knurrte Thorben.
"Ich trau mich nicht alleine." "Jetzt geh schon! Aber mach leise, die meckern sonst."
Im Zeitlupentempo stand Till auf.
"Kannst du nicht mitkommen? Bitte."
"Nein, Mann!" Thorben sah für eine Millisekunde von seinem Display auf. "Jetzt geh, du bist fünf Jahre alt, und kein Baby mehr!"
Der Kleine kapitulierte und stapfte mit bösem Blick aus dem Raum.
Große Brüder waren echt nutzlos. Wozu hatte man einen, wenn er nicht mal mit auf die Toilette kam, wenn es wirklich wichtig war? Schließlich war Uromas Wohnung beängstigend groß, und das Badezimmer seltsam alt. Unter der Badewanne konnte sich bequem ein Monster verstecken. Von dem großen Vorhang im Flur, an dem man vorher vorbei musste, ganz zu schweigen.
Und alle starken Erwachsenen saßen hinter verschlossener Tür im Essraum, wo sie seine Hilferufe niemals hören würden.
Er schaffte es trotz der widrigen Umstände, seine Notdurft zu verrichten und ins Wohnzimmer zurück zu kehren.
"Ich hab Hunger", maulte er.
"Dann iss einen Keks. Mama hat welche auf den Tisch da drüben gestellt."
"Ich mag keine Kekse."
"Dann hast du auch keinen Hunger."
Beleidigt kuschelte Till sich in die Ecke des Sofas, klemmte sich ein Kissen vor den Bauch und starrte auf den Fernseher.
Was die wohl im Esszimmer besprachen? Vielleicht würde Uroma sterben.
"Thorben, wird Uroma sterben?" Der Große sah überrascht auf.
"Ich... keine Ahnung, ich glaube nicht, dass es darum geht. Hey, was ist denn los?"
Thorben legte sein Handy weg und beugte sich zu seinem kleinen Bruder vor.
"Warum weinst du denn?" Till drückte sein Gesicht in das Kissen und schniefte.
"Ich will nicht, dass Uroma stirbt."
"Das tut sie ja auch gar nicht." Thorben runzelte die Stirn. Was sollte er bloß mit seinem heulenden kleinen Bruder anfangen. Bestimmt wollte er gleich zu Mama.
"Ich will zu Mama", nuschelte es aus dem Kissen.
Unruhig schaute Thorben sich um. Er musste unbedingt verhindern, dass der Kleine Theater machte. Aber wie? Sein Blick fiel auf das Bücherregal an der hinteren Wand des Raumes.
"Soll ich dir was vorlesen?", fragte er, einer plötzlichen Eingebung folgend.
Till hob den Kopf und schaute ihn verdutzt an.
"Du liest mir doch nie vor", brachte er heraus. "Kannst du überhaupt lesen?"
"Na, hallo. Ich bin in der sechsten Klasse. Ich konnte schon lesen, als du noch in die Windeln gemacht hast!" Thorben sah seinen Bruder empört an. Dann musste er über seinen ungläubigen Gesichtsausdruck lachen.
"Los, hol mir Uromas Märchenbuch. Daraus hat sie uns doch früher immer vorgelesen, weißt du noch?"
Till wusste es nicht mehr, wollte sich aber nicht blamieren. Also schlüpfte er schnell vom Sofa und lief zu Regal. Dort standen eine Menge Bücher. Eine ganze Menge Bücher. Welches war bloß das Märchenbuch? Die Buchrücken sahen alle ähnlich aus. Nicht so bunt und glänzend wie die, die auf seinem Nachtschrank zuhause lagen. Diese hier waren alt und dunkel. Eins, das er gut erreichen konnte, hatte goldene Schrift auf seiner schwarzen Haut. Es war dick und schwer. Bestimmt war das das Märchenbuch.
Er zog es heraus und trug es zu Thorben.
"Hier", sagte er. Thorben warf ihm einen seltsamen Blick zu, schlug das Buch aber auf.
Die Seiten waren eng bedruckt, aber es gab auch einige, auf denen große, bunte Bilder prangten.
Eins zeigte einen Mann mit langen Haaren, der in einem Boot stand. Die Kleider bauschten sich auf, und um das Boot herum türmten sich die Wellen. Neben dem Mann hockten noch andere, die verschreckt und ängstlich aussahen.
"Fang vorne an", bat Till und blätterte ein paar Seiten zurück. Er war fast ganz vorn angelangt, als er ein weiteres Bild entdeckte. Eine alte Hütte war darauf zu sehen, über der ein Stern stand. In der Hütte lagen ein paar Tiere; Schafe, ein Esel und ein Ochse. In der Mitte stand eine Futterkrippe, und in dieser lag ein Baby. Drum herum standen und knieten ein paar Männer und die Mutter des Kindes.
"Das sieht schön aus", sagte Till. "Lies mir dieses Märchen vor."
Thorben war sich sicher, dass dieses Buch nicht das alte Märchenbuch war, aus dem Uroma immer vorgelesen hatte, aber das war eigentlich egal. Hauptsache, Till blieb ruhig. Er blätterte also an die Stelle, die zu dem Bild zu gehören schien, und begann zu lesen.

"Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt.
Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlecht Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. 
Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge."

"Das ist kein Märchen, oder?", fragte Till und strich mit dem Finger über die Frau und das Baby auf dem Bild. Thorben runzelte die Stirn. Maria und Josef. Das hatte er schon mal gehört, hatte irgendwas mit Weihnachten zu tun. Sara aus seiner Klasse hatte ihm letztens etwas erzählt. Die ging zum Religionsunterricht. Aber das würde Till sowieso nicht verstehen.
"Keine Ahnung", sagte er deshalb nur. "Soll ich weiterlesen?" Till nickte eifrig.
"Ja, ich will wissen, wer die Männer da sind. Und ich will wissen, wie das Baby heißt."
Thorben atmete tief durch und las weiter.

"Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.
Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was die Hirten gesagt hatten.
Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.
Und die Hirten kehrten wieder um, priesen Gott und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war."


"Siehst du, das sind die Hirten."
Till beugte sich über das Bild und sah es lange staunend an. "Stell dir vor, Engel haben sie erschreckt. Mensch, ich hätte echt Angst gekriegt."
Thorben sagte nichts. Er schaute nur auf das Bild und auf seinen Bruder. Er hatte Till noch nie so in eine Sache vertieft gesehen.
"Aber ich hab nicht richtig gehört, wie das Baby heißt", redete Till weiter. "Irgendwas mit Heil... oder Chris? Lies das noch mal, bitte."
Er hatte wieder den Bettelblick, und Thorben suchte die Stelle im Text. "Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr", wiederholte er.
"Also heißt er Heiland?" "Nein, er ist der Heiland." "Was ist ein Heiland?" "Keine Ahnung." "Ich frag nachher Mama." Die wird das bestimmt auch nicht wissen, dachte Thorben. Wenn es einer weiß, dann Uroma. Aber die wusste in letzter Zeit nicht mehr viel.
"Na gut, dann heißt das Baby eben Chris... Christ..." "Christus." "Ich nenne es Chris. das kann ich mir besser merken."
Till nahm Thorben das Buch aus der Hand und legte sich damit auf den Fußboden. Er betrachtete das Bild lange.
"Ich mag dich, Chris", flüsterte er. Thorben hörte es und schüttelte den Kopf. Diese kleinen Kinder.
"Wegen dir haben die Männer mit den Schafen keine Angst mehr. Das finde ich toll."
Auf dem Flur waren Stimmen zu hören. Gleich darauf ging die Tür auf, und Mama kam herein. Oma war auch bei ihr. Zum Schluss schob Papa Uroma im Rollstuhl ins Wohnzimmer.
"Wir sind fertig", sagte Mama. Sie wirkte erleichtert. "Ihr wart wirklich ruhig. Toll habt ihr das gemacht."
Till nahm das Buch auf und trug es zu Uroma, die müde und ein wenig schief in ihrem Rollstuhl hing. Er legte ihr das Buch auf den Schoß, stellte sich dicht neben sie und flüsterte ihr ins Ohr: "Sieh mal, was ich gefunden habe. Dein Märchenbuch. Aber weißt du, ich glaube, das ist gar kein Märchen. Ich glaube, diese Geschichte ist in echt passiert. Glaubst du das auch?"
Uroma setzte sich gerade und legte die Hand zärtlich neben das Bild im Buch. Till merkte nicht, dass alle im Raum sie beide beobachteten. Auch Uroma schien davon nichts zu bemerken.
"Das ist der Heiland", antwortete Uroma. Ihre Stimme klang zittrig und leise, aber gar nicht klagend, wie sonst.
"Er heißt Jesus Christus. Und weißt du, warum er der Heiland" genannt wird?" Till schüttelte den Kopf.
"Er wird so genannt, weil er die Welt wieder heil machen kann."
Till biss auf seine Lippe und sah Uroma nachdenklich an.
"Macht er dich auch wieder heil?", fragte er dann.
Uroma lächelte. "Oh ja. Ich gehe bald zu ihm, und dann macht er mich ganz heil."
Till verstand nicht, was genau sie meinte und wie sie mit ihrem Rollstuhl zu diesem Stall kommen wollte. Aber er sah, wie glücklich ihre Augen waren.
Darum schlang er seine Arme um ihren Hals, gab ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte: "Dann kann er ja wirklich mein Freund werden, der Chris. Wenn er dich heile macht. Und wenn du willst, dann fahre ich dich mit dem Rollstuhl zu seinem Stall."
Mama war neben Till getreten und nahm ihn an der Hand. "Komm, Till, Uroma muss sich ein bisschen ausruhen."
Sie wollte das Buch von ihrem Schoss nehmen, aber Uroma hielt es fest. Als Papa den Rollstuhl zum Sofa rollte, fing Till den Blick auf, den die alte Frau ihm zuwarf.
"Ich schaff das schon!", sagte dieser Blick. "Mach dir keine Sorgen."
Da wusste Till, dass Chris, der Heiland schon lange Uromas Freund sein musste, und dass er sie in ihrem Rollstuhl schon finden würde, um sie heil zu machen.

Away in a manger no crib for a bed
the little Lord Jesus laid down his sweet head.
The stars in the bright sky looked down where he lay
The little Lord Jesus asleep on the hay.

The cattle alowing, the baby awakes
but little Lord Jesus, no crying he makes.
I love thee, Lord Jesus, look down from the sky
and stay by my bedside till morning is nigh.

Be near me, Lord Jesus, I ask thee to stay
close by me forever and love me I pray.
Take all the dear children in thy tender care
And take us to heaven to live with thee there.

Martina McBride


(Anmerkung: Uromas Buch war das Neue Testament, der zweite Teil der Bibel. Der Text steht bei Lukas, Kapitel 2, Verse 1-20, Übersetzung Luther 1984)





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