Türchen Nummer 5

Ich bin unsichtbar.
Ich bewege mich Tag für Tag unter hunderten von Menschen, aber sie sehen mich nicht.
Vielleicht bemerken sie das Hindernis, dem sie ausweichen müssen. Vielleicht das gelbe Schild, das vor dem Ausrutschen warnt.
Vielleicht bemerken sie sogar den blau-weiß gestreiften Kittel und den Wischmobb, aber ich selbst bin unsichtbar.
Seit siebzehn Jahren arbeite ich in diesem Krankenhaus. Um mich herum schwirren Stimmen. Leute eilen mit hastigen Schritten durch die Flure. In Patientenzimmern liegen Männer und Frauen. Sie sind stumm. Manchmal redet einer, den lange niemand besucht hat. Er redet mit mir, aber ich glaube, er meint eigentlich einen anderen.
Ich will mich nicht beklagen. Mein Job ist gut. Ja, ich finde ihn sogar befriedigend. Ich mag es, wenn hinter mir die Fußböden glänzen. Wenn die Waschbecken sauber sind, die Toiletten nicht mehr stinken und die Mülleimer leer sind, dann fühle ich mich gut. Ich weiß, dass meine Arbeit wichtig ist. Auch wenn sonst keiner das zu wissen scheint.
Früher hatte ich natürlich eine ganz andere Vorstellung davon, wo ich mit zweiundvierzig Jahren sein wollte. In diesem Alter wäre ich eine Berühmtheit gewesen. Als ich klein war, sagten mir alle, die mich kannten, dass ich nach dem Abitur unbedingt zur Oper gehen müsse. Das war genau meine Meinung. Singen war mein Leben. Singen und schauspielern. Ich hörte den ganzen Tag Kassetten mit Opernmusik, sang alles nach, was mir zu Ohren kam und schlief am Abend mit den klassischen Werken ein, die aus dem Radio im Wohnzimmer bis in meine Schlafecke klangen. Sobald ich alt genug war nahm ich Gesangsunterricht. Ich strengte mich an, um gute Noten in der Schule zu bekommen und bewarb mich frühzeitig auf einen Studienplatz.
In Gesangswettbewerben war ich immer eine der ersten, und meine Lehrerin empfahl mich an der besten Universität des Landes.
Dann wurde ich schwanger.
Ich weiß, es klingt einfach dumm. Wie kann man nur so dumm sein. Jeder weiß doch, dass es nicht gut gehen kann, wenn man sich auf einen Kerl einlässt, obwohl man gerade dabei ist, die ersten Stufen der Karriereleiter zu erklimmen.
Ich will mich nicht heraus reden. Natürlich war es meine Verantwortung. Es war meine eigene Entscheidung. Ich habe das Kind behalten. Eine kurze Pause im Studium, nur ein Semester, dann könnte ich bestimmt weitermachen. Ach, ich war wirklich dumm. Natürlich ist er nicht bei mir geblieben, als er es erfahren hat. Eine vielversprechende Studentin ist attraktiv, aber eine vielversprechende schwangere Studentin wird unsichtbar. Das habe ich damals erlebt.
Ich musste mir einen Job suchen, um mein Studium und mein Kind zu finanzieren. Ein paar Stunden putzen, kein Problem.
Ich habe es nicht geschafft. Das Studium kam zu kurz, ich schaffte es nicht zu allen Proben und Auftritten. Ich fand keinen Babysitter. Ich verlor meine Stimme.
Nicht die normale Stimme. Mit meinem Kehlkopf und den Stimmbändern war alles in Ordnung. Ich verlor mein Herz und meine Seele. Ohne Herz und Seele kann ich nicht singen, es geht einfach nicht.
Stattdessen fand mich ein Mann. Er heiratete mich sogar. Wir bekamen noch eine Tochter.
Ich blieb ein paar Jahre zuhause. Manchmal fand ich sogar meine Stimme wieder: abends, am Bett meiner Töchter. Ich sang ihnen Schlaflieder, und in diesen leisen Abendstunden war ich wieder glücklich.
Es dauerte nicht lange an. Ich wurde wieder unsichtbar. Diesmal hatte ich keine Ahnung wie es passierte - es passierte einfach. Wie eine alte Gewohnheit, die auf einmal wieder da ist.
Er bleib erst abends weg, dann reichte er die Scheidung ein.
Ich ging wieder arbeiten. Putze Dreck und Sorgen weg. Der Dreck kam wieder, jeden Morgen war er wieder da. Die Sorgen auch. Sie passten nicht in die Müllbeutel, und auch im Wischwasser wollten sie sich nicht auflösen.
Jetzt habe ich mich daran gewöhnt.
Ich bin einfach, wer ich bin. Irene, die Putzfrau, deren Namen keiner kennt. Die Unsichtbare, die mal einen Traum hatte.
Aber vor zwei Wochen passierte etwas Außergewöhnliches.
Es war die Morgenschicht, die ich am liebsten übernehme.
Ich fing um vier Uhr morgens an zu putzen, oben in der Chirurgie. Bis kurz vor sechs hatte ich mich schon bis hinunter in den Leichenkeller vorgearbeitet.
Es macht mir nicht viel aus, dort sauber zu machen: wenigstens bin ich dort allein. Der Pförtner schließt mir den Fahrstuhl auf, und dann putze ich die Räume. Alles ist still. Vielleicht bin ich komisch, aber dieser Ort ist der einzige, an dem ich noch singe.
Ich singe alte Lieder, ruhige, traurige zumeist. Schlaflieder manchmal, oder Totenmessen. Keiner hört mich.
Bis auf diesen einen Morgen um sechs Uhr siebzehn. Ich weiß die Zeit so genau, weil mein Blick ausgerechnet auf die runde Uhr im Flur fiel, als ich erschrocken aufblickte.
Ich hatte nicht gehört, dass jemand gekommen war. Ich war eben am Ende des ersten Satzes der Messe angekommen, da stand sie vor mir: eine junge Frau im grünen Kittel. "Guten Morgen", lächelte sie. "Es tut mir Leid, ich muss durch ihr frisch Gewischtes laufen." Mit der Hand wies sie auf den Raum am Ende des Flures. In ihren Augen entdeckte ich ehrliches Bedauern. Als ob es ihr tatsächlich schwer fiele, meine Arbeit zu stören.
"Nicht schlimm", brachte ich hervor. Sie passierte und ging vorsichtig, mit großen Schritten und auf Zehenspitzen über den nassglänzenden Flur. Kurze Zeit später kam sie zurück, eine Akte unter dem Arm.
"Jemand hat versehentlich eine Krankenakte mit hier hinunter gegeben, die wir noch brauchen", erklärte sie, als sei ich nicht unsichtbar. "Bitte entschuldigen Sie die Störung. Und vielen Dank, dass Sie das Krankenhaus so wunderbar sauber halten!" Sie lächelte mich noch einmal an. Ein strahlendes Lächeln, mit dem sie mir voll ins Gesicht blickte. "Einen schönen Tag noch!"
Sie verschwand im Fahrstuhl. Ich schluckte, schüttelte den Kopf und wischte ihre Fußspuren weg. Auf meinem Gesicht stand noch ihr Lächeln, als ich meinen Wagen wieder in den Aufzug schob.
Die junge Frau begegnete mir in den folgenden Tagen noch öfter. Sie war Schwesternschülerin und arbeitete auf der Onkologiestation.
Immer wenn sie mich sah wechselten wir ein paar Worte.
Sie hatte wenig Zeit, war immer zwischen den Krankenzimmern unterwegs, aber mindestens einmal am Tag blieb sie kurz bei mir stehen. Sie machte mir ein Kompliment für meine Singstimme, die sie im Keller gehört hatte. Sie fragte mich, wie es mir ginge. Sie erzählte von dem Wohnheim, in dem sie lebte, und dass sie oft Heimweh habe. Einmal brachte sie mir einen Kaffee mit, als sie zur Frühschicht kam.
Das war in den Tagen vor Weihnachten.
Am Heiligabend war sie nicht im Dienst. Natürlich nicht. Es waren kaum Patienten da. Ich putzte meine übliche Runde. Der letzte Flur war der vor dem Andachtsraum des Krankenhauses. Es war Viertel vor vier, und die Gänge lagen wie ausgestorben.
Eben schob ich meinen Putzwagen an der Glastür vorbei, da schaute jemand um die Ecke.
"Frau Kassidis!" Ich zuckte zusammen. Wer kannte meinen Namen? Sicher, er stand am Kittel, aber ich war doch unsichtbar.
"Frau Kassidis, haben sie einen Moment Zeit?"
Es war die nette Schülerin. Sie trug keinen Kittel, sondern Jeans und einen dunkelblauen Pullover. Ihr Haar, das sie normalerweise in einem festen Dutt trug, hing offen über die Schultern. Es sah sehr hübsch aus.
"Ich... ja, ich habe Zeit."
Den Wagen parkte ich dicht an der Wand, dann folgte ich ihr in den Andachtsraum.
Er war nur schwach beleuchtet. Ein großer Stern hing von der Decke, am Weihnachtsbaum funkelten goldene Kugeln und tausend kleine Lichter. Die Stuhlreihen waren in einem Halbkreis ausgerichtet. Alles lief auf einen Punkt vor dem Tisch zu, der als Altar diente.
Dort stand eine Krippe.
"Ich helfe dem Pastor bei der Andacht nachher", erklärte das Mädchen. Ihre Stimme klang ein wenig verlegen. "Ich wollte Sie fragen... ob sie sich hier wohl fühlen würden. Ich meine: wenn Sie ein Patient wären. Ich möchte, dass die Menschen sich geborgen fühlen, wenn sie nachher kommen."
Die Worte drangen nur halb an mein Ohr.
Ich stand im Mittelgang zwischen den Stühlen und starrte auf die Krippe. Nur ein paar Schritte trennten mich von dem Holz und dem Stroh ... und von dem Kind. Da lag es und schaute nach oben zur Decke. Niemand war da, keine Maria, kein Josef, kein Ochse und nicht mal ein Esel. Nur das Kind, und es war wach. Musste es nicht schrecklich einsam sein?
Fühlte es sich nicht genauso verlassen wie ich, in diesem großen Krankenhaus, das ebenso gut mein Zuhause sein könnte, so lange wie ich hier schon arbeitete?
Hatte es nicht Angst, war es nicht erschüttert über die Leere, in der es sich plötzlich wiederfand? Brauchte es nicht seine Mutter, die es halten und wiegen und für es singen sollte?
"Es ist..." Ich wollte ihr wirklich helfen, dieser netten Schülerin. Aber ich konnte nicht sprechen. Ich konnte nicht sagen, ob es schön war oder nicht. Ich schluckte, um den Kloß in meinem Hals los zu werden.
Da fühlte ich ihre Hand auf meiner Schulter.
"Es ist okay", sagte das Mädchen leise.
Meine Füße bewegten sich auf die Krippe zu. Das Mädchen hielt mich nicht auf.
Mit zitternden Händen nahm ich das Kind aus dem Stroh, kniete mich neben die Krippe und drückte das Baby fest an mich.
Ich war eine schlechte Mutter gewesen. Ich hatte versagt. Ich hatte meine Träume aufgegeben, und hatte meine Töchter mit Hoffnungslosigkeit infiziert. Ich hatte versagt.
Ich drückte das Baby an mich, wiegte den Körper hin und her und weinte. Die Tränen flossen heiß über meine Wangen. Wie gut das tat. Wie gut das tat.
Dann, plötzlich, öffnete sich mein Herz. Meine Seele streifte meine Kehle und sang.

Schlaf mein Kindchen, schlaf ein Schläfchen, Babuschki Baju.
Silbermond und Wolkenschäfchen schaun von oben zu.

Ich spürte, wie die Schale um mein Herz aufbrach. All die Schuld. All mein Versagen.

Märchen weiß ich, Wiegenlieder sind in deiner Ruh. Schlaf und schließ die Augen beide, Babuschki baju.

Ich fühlte, wie er mich umarmte. Die Umarmung des Vaters, den ich in all den Jahren vergessen hatte. Er schloss mein Herz und meine Seele fest in seine Arme, fester und zärtlicher als ich das Baby halten konnte. Ich hatte ihn so lange vergessen, diesen himmlichen Vater.

Schlaf mein Kind, du sollst einst werden wohl ein großer Held, der als Retter dieser Erde, und das Heil der Welt.

Als der letzte Ton in den Ecken des Raumes verhallte bemerkte ich das Mädchen, das neben mir kniete. Es weinte, so hell und glücklich wie ich.
Ich legte das Kind zurück in die Krippe, stand auf und umarmte das Mädchen.

"Es ist schön so", sagte ich leise und ging zurück zur Tür.
Dort drehte ich mich um und sah zurück zur Krippe.
"Es ist schön so", wiederholte ich fest.
"Es ist wirklich Weihnachten."

Ich schob den Putzwagen auf den Flur und setzte meine Arbeit fort. Nie habe ich mit so viel Freude gearbeitet. Niemals zuvor. Der Boden strahlte. Mein Herz strahlte.
Was immer morgen kommen würde, mein Vater hatte mich nicht vergessen. Er war mir begegnet, in seinem Sohn, dem Heil der Welt. Er hatte mich Unsichtbare die ganze Zeit gesehen.

Er würde mich nie vergessen.

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