Trampelpfade

Immer, wenn wir ein paar Tage frei haben und in Richtung Heimat reisen, fängt meine Seele an, aufzuatmen.
Ich mag Berlin, ich fühle mich wohl hier, und ich liebe meine Arbeit. Aber trotzdem bin und bleibe ich ein Naturkind. Ich mag Dörfer und Kleinstädte einfach lieber als die großen Anhäufungen von Wohnraum, Handel und Industrie. Ich liebe Häuser, die von Gärten umgeben sind. Felder, die durch Waldstreifen und Wiesen unterbrochen werden. Straßen, an deren Böschung Ameisenhügel stehen. Läden, die überschaubar sind und eine kleine, aber feine Auswahl haben. Am liebsten würde ich auf eine ganze Menge Schnickschnack verzichten und wieder regionale Tante-Emma-Läden, Metzgereien, Bäcker und Schneidergeschäfte nutzen. Naja, ich schweife ab.
Eigentlich wollte ich etwas über breite Straßen und schmale Wege schreiben. Es ist wirklich praktisch, dass ich mich ins Auto setzen und hunderte von Kilometern in wenigen Stunden fahren kann. Aber dadurch wird das Leben auch wieder stressiger... und irgendwie weniger intensiv. Ich düse von A nach B und erlebe viel. Theoretisch könnte ich die ganze Welt besuchen, wenn ich Geld und Zeit investiere. Wie ein Stein, der über die Wasseroberfläche geflippt wird.
Aber die Straßen führen meistens nur durch die Regionen hindurch, nicht wirklich in sie hinein. Um viel zu erreichen befahre ich sie.
Aber um zu leben steige ich aus. Um zu fühlen, zu riechen, Sonne und Wind zu spüren, meine Füße in kalte Bäche zu tauchen, Fichtennadeln unter meinen Sohlen federn zu lassen, Vogelsang und Blätterrauschen zu hören, Beeren zu schmecken, von Schönheit überwältigt zu werden - dafür verlasse ich die Straßen und trete auf schmale Pfade. Ich gehe die kleinen, unscheinbaren Wege, bei denen ich über Wurzeln und bemooste Steine steigen muss. Sie führen mich nicht in wichtige Banken und Geschäfte. Sie bringen mich nicht zu Parties und Menschenmassen.
Wohin sie mich denn bringen? An meine Grenzen, und an mein Herz. Sie lassen mich schwer atmen und tief Luft holen. Sie lassen durch ihre Ruhe meine Unruhe laut werden, und meine Füße stampfen den Stress in den Waldboden. Ich trete aus dem Gewirr von Baumstämmen und Unterholz auf eine Lichtung und hebe den Blick. Der Bussard kreist unter dem blauen Himmel und meine Lasten fallen vor mir ins sonnenwarme Gras. Mein Handy hat keinen Empfang. Plötzlich lenkt nichts mehr mich von meinen Freunden ab, die mit mir wandern. Statt der Handykamera macht mein Gedächtnis Fotos, die schöner sind, und heller.
In der Abgeschiedenheit merke ich, dass die Probleme der Welt vielleicht doch nicht alle auf meinen Schultern liegen.
Mein Herz wird weit und ich habe plötzlich Muse, nach dem Wert des Seins zu fragen. Und ein paar Sonnenminuten später ist die Frage nicht mehr wichtig, denn ich spüre, dass ich bin.
Ich lebe in einer Welt, die mir Großes ermöglicht. Vielleicht verändern meine Gedanken und Ideen die Welt, vielleicht verpuffen sie, irgendwo zwischen Satelliten und Smartphones auf halbem Weg ins Gehirn der Lesenden.
Jesus hat sich einmal mit seinen Jüngern über den Tod unterhalten. Petrus (einer der Jünger) war entsetzt, dass Jesus so selbstverständlich davon geredet hat, dass er getötet werden wird. Wir können doch nicht zulassen, dass so ein krasser Mensch, der echt die Welt bewegt und Leute beeindruckt, zu früh sterben wird!, war das Problem, das Petrus hatte. Und Jesus? Er erinnert ihn daran, dass wir Menschen dazu tendieren, das Leben aus einer sehr eingeschränkten Perspektive zu sehen.
"Was nützt es, die ganze Welt zu gewinnen und dabei seine Seele zu verlieren? Gibt es etwas Kostbareres als die Seele?" (Matthäus 16,26, Die Bibel (NL))
Wir leben, als wäre dieses Leben alles. Wir wollen es möglichst lange auskosten und so viel wie möglich mitnehmen, oder eben so viel wie möglich geben. Jesus hat eine andere Perspektive. Er behauptet, dass unser Körper und Geist nicht das Wichtigste sind. Wir haben eine Seele, und diese Seele kann viel mehr erleben als wir sehen. Unsere Seele kann ewig leben. Wenn wir sie nicht verlieren.
Mir fällt es auch manchmal schwer, das im Blick zu behalten. Ich sehne mich danach, etwas zu bewegen. Ich möchte Dinge ausprobieren, die Welt sehen, große Gefühle haben.
Das kann ich auch. Aber es ist nicht das, was wirklich zählt. So ganz letztendlich und tief drin, meine ich. Genau das fühle ich, wenn ich einen schmalen Trampelpfad entlang gehe. Ich laufe ein paar Kilometer in einer scheinbar völlig bedeutungslosen Umgebung und fühle, dass meine Seele auf dem Weg in den Himmel ist. Nicht auf eine Wattewolke zu Harfe spielenden Englein mit Heiligenschein, sondern auf dem Weg in den Himmel. In ein Universum, eine Welt, die mehr ist als das, was ich mir jetzt vorstellen kann. An den Ort, wo ich Gott persönlich begegnen werde und sehe, was ich jetzt nur glauben kann. Wo das Leben noch intensiver ist als jetzt, und vor allem: nicht mehr gehetzte Endlichkeit, sondern grenzenlose Weite.





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