Gelassenheit

In den letzten Wochen habe ich das Gefühl, täglich um mindestens drei Monate zu altern. Besonders schnell geht die Alterung vonstatten, wenn die beiden kleinen Jungs (4 und 6 Jahre) ihre Bruderrivalitäten ausleben, was zwischen 7 und 8 Uhr beziehungsweise zwischen 15 und 20 Uhr im Zweiminutentakt geschieht. "Mamaaaaa, der hat mich gekniffen!" - "Mamaaaa, der hat mein Auto weggenommen!" - "Und was hast du gemacht?" "GAR NICHTS!!!!"
Ich fühle, wie sich weitere Falten in mein Gesicht eingraben und kann praktisch spüren, wie sich das Melanin aus meinen Haaren, sie in silbriges Grau verwandelnd, zurückzieht.
Es gibt zudem ein Phänomen, das zumindest in unserer Familie regelmäßig auftritt. Ich nenne es das "Schwarzer-Peter-Phänomen". Dieses äußert sich wie folgt: Die Eltern haben eine tolle Idee (Beispiel: "An unserem freien Tag gehen wir in den Zoo!"). Die Kinder sind restlos begeistert und hoch motiviert - bis auf eines. Ich bin nicht sicher, ob sie am Morgen absprechen, wer zu welcher Tageszeit die "Schwarzer-Peter"-Rolle übernimmt, aber es funktioniert reibungslos. Es findet sich immer eine Person, die gegen das Unternehmen ist ("Unternehmen" ist austauschbar mit: leckerem Essen, Spiel, Film usw.). Dieses "Dagegen-Sein" äußert sich, je nach Alter und Geschlecht des verantwortlichen "Schwarzen Peters" in Heulen, aus dem Zimmer rennen, lautstarkem Protest oder stillem Schmollen mit leidendem Gesichtsausdruck. 
Ein weiterer zur rapiden Alterung beitragender Faktor ist der Zustand der Kinderzimmer. Kinderzimmer sind resistent gegen Ordnung. Es liegt nicht an den Kindern: sie sind allesamt gewillt, ihre Zimmer sauber und ordentlich zu halten. Es liegt auch nicht an der Anzahl der liebevollen und gestrengen elterlichen Mahnungen. Nein, es liegt einzig und allein an den Zimmern.
Kinderzimmer haben sich im Laufe der Evolution dazu entwickelt, in Abwesenheit der Kinder meterhohe Wäschestapel zu bilden, Monster aus Staubflusen zu erschaffen, Papierkörbe überquellen zu lassen und selbstöffnende Schubladen zu fabrizieren, aus denen sich ohne menschliches Zutun Inhalte über den Boden verstreuen.
Man kann einfach nichts dagegen tun. Das ist so mit der Evolution. Sie hat schließlich einen Vorlauf von Milliarden von Jahren, während unsere menschliche Lebenszeit begrenzt, ja geradezu erschreckend schnell davon fließend ist.
Man kann einfach nicht in sechsunddreißig Jahren aufholen, was schon den Dinosaurermüttern Kopfschmerzen bereitete.
Nichts desto Trotz sträubt sich meine doch vorgestern noch jugendliche Seele dagegen, dem Alterungsprozess nur mit unbezahlbarer Anti-Faltencreme zu begegnen.
Es muss eine andere Lösung geben, diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten.
Da die drei genannten Punkte (Geschwisterrivalität, Schwarzer-Peter-Syndrom und Kinderzimmermutation) quasi unabänderliche Größen sind, brauche ich ein Strategie.
Ich glaube, die einzige Rettung heißt "proaktive Gelassenheit". Diese ist eventuell meditativ zu erreichen, aber Räucherstäbchen und Yoga-Übungen passen nicht zu meinem Lebensstil. Also versuche ich es mit einem festen Willen. Ich mache mir bewusst, dass die genannten Größen keine Böswilligkeiten darstellen, die absichtlich zur Verärgerung der Eltern ausgeführt werden, sondern, dass die Kinder diesen temporären Anomalien ebenso hilflos ausgeliefert sind wie die erwachsenen Familienmitglieder.
Wenn ich auf diese Dinge gefasst bin, kann ich sie leichter ertragen. 
Folgende Dinge haben sich mir hilfreich erwiesen:
- vor Betreten des Kindergartens (um die Jungs abzuholen) tief durchatmen
- im Kinderzimmer die freundlichen Gesichter fixieren, statt den Blick schweifen zu lassen
- immer Lächeln und Winken.
Jetzt mal im Ernst: Ich brauche tatsächlich Gelassenheit, um den Anforderungen des Familienlebens Stand zu halten, ohne eine dauermeckernde, völlig gestresste Mutter zu werden.
Ich bin täglich mit Gott im Gespräch darüber und bitte ihn um Kraft und Weisheit.
Vor allem danke ich ihm für alles, was schön ist. Das tut echt gut und ist die echte Quelle der Gelassenheit, die ich brauche.
Es bringt mich zum Lächeln, wenn ich mitten in einem Trotzanfall sehe, wie sich aus dem knuddeligen Kleinkind langsam ein selbstbewusstes Vorschulkind entwickelt, mit dem man, wenn die Emotionen sich ein wenig beruhigt haben, schon richtig vernünftig über das Erlebte sprechen kann.  
Es macht mich glücklich, wenn eins der großen Kinder plötzlich von selbst auf die Idee kommt, den vollen Wäschekorb zur Waschmaschine zu bringen. Ich genieße es, dass die Schulkinder anfangen, sich im Kochen und Backen zu üben - und die Küche danach tatsächlich ziemlich sauber hinterlassen.
Ich könnte heulen vor Dankbarkeit, wenn am Abend die Jüngste, eben einschlafend, meine Hand festhält und ihr kleines Gesicht hinein kuschelt.
Ich bin längst nicht immer die souveräne, zuversichtliche und gelassene Mutter, die ich gern wäre. Die Falten und grauen Haare sind eine Realität, genauso wie die angespannten Gesichtsmuskeln und die Reizbarkeit. 
Aber darin will ich mich nicht verlieren. Gott hält mir schließlich den Rettungsring der Gelassenheit hin, auf dem in großen Buchstaben DANKE steht.



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